Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene neuromuskuläre Erkrankung, die zum Verlust von Motoneuronen und fortschreitendem Muskelschwund führt. Sie wird meist im Säuglingsalter oder in der frühen Kindheit diagnostiziert und ist unbehandelt die häufigste genetische Ursache für den Tod von Säuglingen. Sie kann auch später im Leben auftreten und dann einen milderen Krankheitsverlauf haben. Das gemeinsame Merkmal ist eine fortschreitende Schwäche der willkürlichen Muskeln, wobei Arm-, Bein- und Atemmuskeln zuerst betroffen sind. Zu den assoziierten Problemen können eine schlechte Kopfkontrolle, Schluckbeschwerden, Skoliose und Gelenkkontrakturen gehören.

Klassifizierung

Das Alter des Ausbruchs und die Schwere der Symptome bilden die Grundlage für die traditionelle Klassifizierung der spinalen Muskelatrophie in eine Reihe von Typen.

Wie andere neuromuskulären Erkrankungen auch sind spinale Muskelatrophien relativ selten. Die infantile Form hat eine Häufigkeit (Inzidenz) von 1 pro 6.000 Geburten, die juvenile Form eine Häufigkeit von 1 pro 75.000 Geburten.

SMA Typ I – Werdnig-Hoffmann (Akute infantile SMA)

  • Bei etwa 50% der Patienten diagnostiziert
  • Das freie Sitzen wird per definitionem nie erlernt
  • Die Erkrankung beginnt bereits in utero oder während der ersten 3 Lebensmonate
  • Der Tod tritt meist in den ersten beiden Lebensjahren durch Ateminsuffizienz oder Infektion ein

SMA Typ II – chronische infantile SMA – Dubowitz (Intermediäre SMA)

  • Bei etwa 20% der Patienten diagnostiziert
  • Freies Sitzen wird erlernt, Gehen ohne Hilfe nie möglich
  • Erkrankungsbeginn meist im ersten Lebensjahr
  • eingeschränkte Lebenserwartung

SMA Typ III – Kugelberg-Welander (Juvenile SMA)

  • Bei etwa 30% der Patienten diagnostiziert
  • Gehen ohne Hilfe möglich
  • IIIa: Beginn < 3 Jahre
  • IIIb: Beginn > 3 Jahre
  • Milder Verlauf
  • Lebenserwartung nicht deutlich reduziert

SMA Typ IV – Adulte SMA

  • Bei etwa 5% der Patienten diagnostiziert
  • Erkrankungsbeginn > 30 Jahre
  • Unterschiedliches Fortschreiten
  • Normale Lebenserwartung

Symptome

Die Symptome variieren in Abhängigkeit vom SMA-Typ, dem Stadium der Erkrankung sowie individuellen Faktoren. Die folgenden Anzeichen und Symptome treten am häufigsten beim schweren SMA-Typ I auf:

  • Areflexie, besonders in den Extremitäten
  • Allgemeine Muskelschwäche, schlechter Muskeltonus, Schlappheit oder eine Tendenz zum Schlappsein
  • Schwierigkeiten beim Erreichen von Entwicklungsmeilensteinen, Schwierigkeiten beim Sitzen/Stehen/Gehen
  • Bei Kleinkindern: Einnahme einer Froschschenkelposition beim Sitzen (Hüfte abduziert und Knie gebeugt)
  • Kraftverlust der Atemmuskulatur: schwacher Husten, schwacher Schrei (Säuglinge), Sekretstau in der Lunge oder im Rachen, Atembeschwerden
  • Glockenförmiger Rumpf (verursacht durch die Verwendung nur der Bauchmuskeln zur Atmung) bei schwerem SMA-Typ
  • Faszikulationen (Zuckungen) der Zunge
  • Schwierigkeiten beim Saugen oder Schlucken, schlechte Nahrungsaufnahme

Diagnose

SMA wird mit Hilfe eines Gentests diagnostiziert, der in über 95 % der Fälle eine homozygote Deletion des SMN1-Gens nachweist, und bei den übrigen Patienten eine zusammengesetzte SMN1-Mutation. Der Gentest wird in der Regel anhand einer Blutprobe durchgeführt, und die MLPA ist eine der am häufigsten verwendeten Gentesttechniken, da sie auch die Bestimmung der Anzahl der SMN2-Genkopien ermöglicht, was von klinischer Bedeutung ist.

Symptomatisch kann SMA nur bei Kindern mit der akuten Form, die eine fortschreitende Erkrankung mit paradoxer Atmung, beidseitig niedrigem Muskeltonus und fehlenden Sehnenreflexen zeigen, mit einem gewissen Grad an Sicherheit diagnostiziert werden.

Ursache

Die Erkrankung ist bedingt durch einen Defekt der Vorderhornzelle (zweites motorisches Neuron, alpha-Motoneuron) im Rückenmark, die die vom Gehirn über das Rückenmark geleiteten Bewegungsimpulse nicht ausreichend auf die peripheren Nerven überträgt. Die Muskulatur selbst ist anatomisch intakt, ihre Verschmächtigung ist ein sekundäres Phänomen. Die Folgen sind zunehmender Kraftverlust und Bewegungsbeeinträchtigungen.

Die spinale Muskelatrophie wird durch eine Anomalie (Mutation) im SMN1-Gen verursacht, das für SMN kodiert, ein Protein, das für das Überleben der Motoneuronen notwendig ist. Der Verlust dieser Neuronen im Rückenmark verhindert die Signalübertragung zwischen Gehirn und Skelettmuskulatur. Ein weiteres Gen, SMN2, wird als krankheitsmodifizierendes Gen angesehen, da der Krankheitsverlauf in der Regel umso milder ist, je mehr SMN2-Kopien vorhanden sind. Die Diagnose der SMA wird anhand der Symptome gestellt und durch einen Gentest bestätigt.

Normalerweise wird die Mutation im SMN1-Gen von beiden Elternteilen autosomal-rezessiv vererbt, obwohl sie in etwa 2 % der Fälle während der frühen Entwicklung auftritt (de novo).

Therapie

Spinale Muskelatrophien gehören bis heute zu den ursächlich nicht therapierbaren Muskelerkrankungen. Trotz intensiver Forschung konnte noch keine Behandlungsform entwickelt werden, die ein Fortschreiten der Muskelschwäche verhindert oder den Krankheitsprozess zum Stillstand bringt.

Gentherapie

Nusinersen (vermarktet als Spinraza) wird zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie eingesetzt. Es ist ein Antisense-Nukleotid, das das alternative Spleißen des SMN2-Gens modifiziert. Es wird mittels einer intrathekalen Injektion direkt in das zentrale Nervensystem verabreicht. Nusinersen verlängert das Überleben und verbessert die motorischen Funktionen bei Säuglingen mit SMA. Es wurde 2016 in den USA und 2017 in der EU zugelassen.

Onasemnogene abeparvovec (vermarktet als Zolgensma) ist eine Gentherapie-Behandlung, die das selbstkomplementäre adeno-assoziierte Virus Typ 9 (scAAV-9) als Vektor verwendet, um das SMN1-Transgen zu liefern. Die Therapie wurde erstmals im Mai 2019 in den USA als intravenöse Formulierung für Kinder unter 24 Monaten zugelassen. Die Zulassung in der Europäischen Union, Japan und anderen Ländern folgte, wenn auch oft mit unterschiedlichen Zulassungsumfängen.

Risdiplam (vermarktet als Evrysdi) ist ein Medikament, das in flüssiger Form durch den Mund eingenommen wird. Es ist ein Pyridazin-Derivat, das wirkt, indem es die Menge des funktionellen Proteins der überlebenden Motoneuronen, das vom SMN2-Gen produziert wird, erhöht, indem es dessen Spleißmuster modifiziert. Risdiplam wurde erstmals im August 2020 in den Vereinigten Staaten für die medizinische Verwendung zugelassen und ist seitdem in über 30 Ländern zugelassen worden.

Orthopädie

Zu den Skelettproblemen, die mit schwachen Muskeln bei SMA einhergehen, gehören enge Gelenke mit eingeschränktem Bewegungsumfang, Hüftverrenkungen, Wirbelsäulendeformationen, Osteopenie, ein erhöhtes Frakturrisiko und Schmerzen. Schwache Muskeln, die normalerweise Gelenke wie die Wirbelsäule stabilisieren, führen zur Entwicklung von Kyphose und/oder Skoliose und Gelenkkontrakturen. Bei Menschen mit SMA I/II wird manchmal eine Wirbelsäulenversteifung durchgeführt, sobald sie das Alter von 8-10 Jahren erreicht haben, um den Druck einer deformierten Wirbelsäule auf die Lunge zu verringern. Darüber hinaus können bei immobilen Personen die Haltung und Position auf Mobilitätshilfen sowie Bewegungsübungen und die Stärkung der Knochen wichtig sein, um Komplikationen vorzubeugen.

Orthesen können eingesetzt werden, um den Körper zu unterstützen und das Gehen zu erleichtern. Zum Beispiel werden Orthesen wie AFOs (Knöchel-Fuß-Orthesen) verwendet, um den Fuß zu stabilisieren und den Gang zu unterstützen, TLSOs (thorakale lumbale sakrale Orthesen) werden verwendet, um den Rumpf zu stabilisieren. Assistive Technologien können bei der Bewältigung von Bewegungen und täglichen Aktivitäten helfen und die Lebensqualität erheblich steigern.

Menschen mit SMA können auch stark von verschiedenen Formen der Ergotherapie und der physikalischen Therapie profitieren.

Physiotherapie

Ziel der physiotherapeutischen Behandlung (physikalische Therapie ) ist, die Folgen der atrophischen Veränderung der Muskulatur so gering wie möglich zu halten bzw. zu kompensieren und zu Wohlbefinden, Lebensfreude und größtmöglicher Selbständigkeit zu verhelfen.

Die Behandlung konzentriert sich auf die

  • Unterstützung und Krafterhaltung der vorhandenen anatomisch intakten Muskulatur
  • Verzögerung von Gelenkkontrakturen und Skoliosen durch Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit
  • Verbesserung und Schulung der Atemfunktion inkl. der Stimmgebung
  • Vorbeugung von Konzentratrionsschwächen und Kompensation von Ermüdungserscheinungen
  • Erleichterung von Alltagsanforderungen

Dabei orientiert und aktualisiert sich die Therapie stets an

  • dem Stadium der Grunderkrankung
  • dem klinischen Befund des Patienten

Sie bezieht Kenntnisse über die Lebenssituation und die individuellen Bedürfnisse des Betroffenen und seiner Familie in die Behandlungsplanung mit ein.

Atmung

Das Atmungssystem ist das am häufigsten betroffene System und die Komplikationen sind die Haupttodesursache bei SMA Typ I. und II. SMA Typ III. kann ähnliche Atemprobleme haben, ist aber seltener.
Die Komplikationen, die durch die geschwächten Interkostalmuskeln aufgrund der fehlenden Stimulation durch den Nerv entstehen. Das Zwerchfell ist weniger betroffen als die Zwischenrippenmuskeln. Einmal geschwächt, erlangen die Muskeln nie wieder vollständig die gleiche Funktionsfähigkeit, um beim Atmen und Husten sowie bei anderen Funktionen zu helfen. Daher ist die Atmung schwieriger und es besteht die Gefahr, nicht genügend Sauerstoff zu bekommen/zu kurz zu atmen und Sekrete aus den Atemwegen nicht ausreichend abzuführen. Diese Probleme treten häufiger im Schlaf auf, wenn die Muskeln entspannter sind.
Die Schluckmuskulatur im Rachen kann beeinträchtigt werden, was zu Aspiration führt und zusammen mit einem schlechten Hustenmechanismus die Wahrscheinlichkeit einer Infektion/Lungenentzündung erhöht.
Die Mobilisierung und Beseitigung von Sekreten beinhaltet manuelle oder mechanische Brustkorbphysiotherapie mit posturaler Drainage und manueller oder mechanischer Hustenhilfe. Zur Unterstützung der Atmung wird häufig eine nicht-invasive Beatmung (BiPAP) eingesetzt, und in schwereren Fällen kann manchmal eine Tracheotomie durchgeführt werden; beide Beatmungsmethoden verlängern das Überleben in vergleichbarem Maße, obwohl die Tracheotomie die Sprachentwicklung verhindert.

Siehe auch

 

Schmerzen & Verletzungen